
Neues Marketing
Wir glauben, die veränderten Märkte mit Methoden der Vergangenheit ausreichend befriedigen zu können. Was für ein Irrtum.
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Unser Verständnis von organisierter Arbeit ist geprägt von der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Hierarchie - räumlich und zeitlich fixierte Kooperation - Steuerung über Finanzresultate - Planung auf der Basis von Erfahrung und kurzfristiger Erwartung, das war und ist das Paradigma. Es funktioniert auch heute noch leidlich, wenngleich wirtschaftssektoral sehr unterschiedlich. Aber es sind Antworten der Gegenwart auf die Fragen der Vergangenheit. Ob sie auch die Fragen der Zukunft beantworten, ist mehr als fraglich. Wir brauchen zweifellos agilere Strukturen, mehr Netzwerkkooperation; nicht Besitz von Ressourcen, sondern Zugriff; nicht schiere Größe, sondern Schnelligkeit und Kundennähe. Insgesamt mehr Fernrohr, weniger Rückspiegel. Man muss also das Unternehmen schon in der Gegenwart auf Zukunftsspekulationen bauen. Und nicht auf das Fundament der Vergangenheit - oder was wir uns darüber erzählen. Das wirklich Neue daran: Im Gegensatz zu älteren Modernisierungsschüben kommt die Digitalisierung - hier begriffen als neue Kombination verfügbarer Technologien - nicht langsam, sondern mit Tsunamigeschwindigkeit auf uns zu. Wandel, ja Neudefinition des Unternehmens ist keine luxurierende Idee, sondern eine Notwendigkeit geworden. Oft ist da tatsächlich eine Not zu wenden.
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Das, was bei der letzten Krise vielleicht noch das Überleben sicherte, kann jetzt im Desaster enden. Besser als jede theoretische Herleitung illustriert das eine Studie des Organisationsforschers Karl E. Weick. Er wurde aufmerksam auf die Fälle zweier amerikanischer Feuerwehrmannschaften, die in den Jahren 1949 und 1994 jeweils durch explodierende Feuerstellen ums Leben kamen. Die tragischen Ereignisse wiesen Gemeinsamkeiten auf. In beiden Fällen war die Gefahr erkannt, konnten die Warnungen nicht überhört werden, waren die Feuerwehrleute schon auf dem Rückzug. Aber zu langsam. Sie klammerten sich an ihre schweren Schaufeln, Feuerspritzen und Rucksäcke, ließen sie nicht fallen - sogar gegen eindeutigen Befehl. Dadurch verloren sie wertvolle Meter. Sie starben, jeweils nur wenige Schritte vor der rettenden Deckung.
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Weick hat diese Fälle zum Anlass genommen, über Widerstand gegen notwendige Veränderungen nachzudenken. Er stellt die Frage: Warum ließen die Feuerwehrleute in lebensbedrohender Situation die Werkzeuge nicht fallen? Warum hielten sie sie fest, wider alle Logik? Seine Antworten sind vielfältig (und der Leser möge innehalten und an sein eigenes Unternehmen denken): -- Instrumente reduzieren Angst. Den Feuerwehrleuten hatten sie in Hunderten von Fällen geholfen; warum sie jetzt wegwerfen?
-- Die Feuerwehrleute hatten keine Übung im Loslassen. Sie hatten das Wegwerfen von Unbrauchbarem niemals vorher geprobt.
-- Die Feuerwehrleute taten das, was sie gelernt hatten. Denn das konnten sie nicht nur am besten; das Festhalten der Instrumente war tief in ihnen eingewurzelt.
-- Die Feuerwehrleute hielten die Instrumente für zu wertvoll. Sie wollten sie deswegen einfach nicht wegwerfen. Etliche Überlebende berichteten, dass die Feuerwehrleute erst nach geeigneten Stellen suchten, wo sie die Werkzeuge sorgsam ablegen konnten.
-- Die Feuerwehrleute sahen nicht, dass sich ihre Situation verbessert. Jedenfalls nicht, wenn sie einfach die Werkzeuge fallen ließen - der Verlust schien ihnen höher als der mögliche Gewinn. Die berühmte Verlustaversion: Wir überschätzen das, was wir verlieren können, und unterschätzen, was wir gewinnen können. Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück. Aber ohne ihre Werkzeuge hätten die Feuerwehrleute einige Zentimeter mehr pro Schritt machen können - was auf die ganze Strecke gesehen den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet hätte.
-- Die Feuerwehrleute hatten Angst vor dem Verlust der eigenen Identität. Was macht ein Feuerwehrmann ohne Instrumente, die das Feuer wehren? Person und Werkzeug waren verschmolzen. Mit bloßen Händen lässt sich kein Feuer bekämpfen. (Was macht der Controller ohne KPIs, ohne Budgetrunden? Was macht der Personaler ohne Leistungsbeurteilungen, ohne Mitarbeiterbefragungen?) Das Wegwerfen der Werkzeuge kam mithin einer Identitätskrise gleich. "Without my tools, am Ia fool?"
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Die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens besteht nämlich hauptsächlich aus den Moden, die es sich abgewöhnt. Vorrang hat, was frei macht. Das heißt: Aufräumen! Entrümpeln! Ausmisten!
Nach Ansicht des Managementberaters Peter Drucker ist es die Hauptaufgabe des Unternehmens, sogar die eigenen Produkte selbst abzuschaffen - bevor es der Wettbewerb tut.
Konzentrieren - immer auf das Notwendige, selten auf das Wünschenswerte, nie auf das Schädliche.
Den ganzen Managementfirlefanz in Zweifel ziehen, der in den letzten Jahrzehnten angespült wurde.
Regelmäßig fragen: Welche Strukturen, Systeme und Richtlinien können wir wegnehmen, ohne dass die Architektur des Unternehmens bedroht ist?
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"Ein Designer weiß, dass er die Vollkommenheit erreicht hat (...), wenn er nichts mehr wegnehmen kann." (Antoine de Saint Exupéry) Wenn wir uns intellektuell verrenken müssen, um irgendwann auch mal beim Kunden anzukommen, sollten wir es lassen. Einfach lassen.
Dann kehren auch Energie, Sensibilität und Lebensfreude wieder. Wir werden wieder flexibler und offen für Neues. Dann tun die Menschen das, was der Gegenwart entspricht. Und nicht der Vergangenheit.
Wir zielen also auf die Abschaffung von Werkzeugen, die in Umbruchzeiten nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen sind. Das heißt nicht, dass es keine Gründe für ihre Erhaltung gäbe.
John Maynard Keynes schrieb: "Die Schwierigkeit ist nicht, neue Ideen zu finden, sondern den alten zu entkommen." Es gibt immer Rechtfertigungen für bestimmte Vorgehensweisen, sonst wären sie nicht implementiert worden.
Aber überwiegen ihre Rechtfertigungsgründe angesichts fundamental veränderter Zeiten? Sind sie vor allem gegenüber dem Transaktionskostennachteil zu verteidigen?
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Eher nicht, sonst hätten die Feuerwehrleute überlebt. Never miss a good crisis!
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© 2018 Thomas Eschment​
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